Das Berliner „Sein“-Magazin, von dem ich ja letztes Jahr eine Ausgabe im Zug gefunden hatte, ist immer wieder für einen Blick auf Seltsamkeiten und mitunter in die Abgründe der Esoterik gut. So auch in einem Interview im März-Heft mit einer „Heilerin“, die vordergründig durchaus etwas begrüßenswertes anbietet, nämlich eine Geld-Zurück-Garantie bei Ausbleiben des Heilungserfolgs – nur „wenn man sich selbst als geheilt ansieht“, blieben die 100€ in ihrem Besitz.
Wäre das alles, wäre es ja nicht so schlimm. Aber die „Heilerin“ schiebt die Ursache für die Krankheiten allein den Kranken zu (Hervorhebungen von mir):
Im Grunde steht alles, was man über Heilung wissen muss, im Vaterunser: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Wenn wir das wirklich bis in die letzte Zelle leben würden, wären wir sofort ohne Krankheit. Krankheiten sind im Grunde immer Vorwürfe gegen einen anderen Menschen oder uns selbst, Beschuldigungen oder Selbstbeschuldigungen.
Worunter wir leiden, sind also demnach unsere Projektionen von Neid, Hass, Wut usw., die sich teilweise als Krankheit manifestieren.
Nicht nur teilweise. Der Mensch schöpft unablässig. […] Wir werden von unseren eigenen Schöpfungen wie hypnotisiert, damit wir sie immer wieder denken und ihnen damit Energie zuführen. Diese Gedankenwesen oder Elementale gilt es jetzt aufzulösen – das ist ein wichtiger Aspekt von Heilung.
So ein menschenverachtendes Weltbild finde ich einfach zum Kotzen!
Sind auch kranke Babys und Kleinkinder selbst schuld, weil sie irgendjemandem Vorwürfe machen oder Charakterfehler haben? (Und was ist mit Tieren?)
Sterben jährlich 2 Millionen Kinder an Durchfall und sind die Hälfte der weltweiten Krankenhausbetten ständig belegt wegen Vorwürfen – oder doch vielleicht wegen unzureichender hygienischer Bedingungen und über ungereinigtes und verseuchtes Wasser übertragener Krankheiten?1
Sind die vielen Millionen AIDS-kranken Afrikaner durch eigene Vorwürfe erkrankt – oder gibt es nicht doch verschiedene medizinische, virologische, epidemiologische, kulturelle und soziologische Gründe, die die Ausbreitung der HI-Viren begünstigen, nicht zuletzt teilweise durch antiwissenschaftliche HIV/AIDS-leugnende Spinner verstärkt, deren Einfluss bis zu Präsidenten reicht?2
Überhaupt schon mal was von Viren und Bakterien gehört, Frau Heilerin?
Würden Sie verfaulte und veschimmelte Speisen essen? Die könnten Ihnen Ihrer Meinung nach doch nichts anhaben.
Und reden Sie sich nicht damit heraus, Sie hätten Ihre Ansichten versehentlich nicht richtig zu Ende gedacht – wie will jemand, der so etwas Grundlegendes übersieht, sich dazu befähigt sehen, anderen auch nur einfachste Ratschläge zu erteilen?
Worauf basiert Ihre Arbeit?
Ich habe hunderte von Büchern gelesen und mich nach Jesus‘ Spruch gerichtet: Prüfet alles und behaltet das Beste. Meine Arbeit ist in diesem Sinne eine Essenz vieler Wahrheitslehren, von der Kabbalah bis hin zu zur Bibel.
Das eine oder andere Medizinbuch wäre nicht schlecht gewesen. Aber nein, es ist ja viel einfacher, den Kranken selbst die Schuld in die Schuhe zu schieben und sich selbst keine Grenzen zuzugestehen:
Gibt es Krankheiten, die Sie nicht heilen können?
Grundsätzlich nicht. Wer zu mir kommt, sollte sich aber erst einmal klar werden, ob er überhaupt geheilt werden will […]
Größenwahn, Menschenverachtung, Realitätsverweigerung – in diesem Interview kommt wohl alles zusammen.
Wer gibt so jemandem überhaupt Platz, diese Ansichten unkritisiert zu verbreiten? Aber angesichts der nächsten Frage des Interviewers – Sein-Redaktionsmitglied – muss man sich da nicht weiter wundern:
Nehmen Sie den Menschen mit der einfachen Heilung ihrer Krankheiten nicht ein Stück Bewusstwerdungsmöglichkeit?
Nein. Genau zu dieser Bewusstwerdung wird der Klient ja bei meiner „Initiations-Therapie“ hingeführt. Dabei wird die Heilung erst möglich, wenn er den ihm bekannten Charakterfehler und Vorwurf anerkennt, ihn bereut und dafür um Vergebung und Gnade bittet oder bei einer Selbstverurteilung bereit ist, sich selbst zu vergeben.
Krankheit als – möglichst lange? – spirituelle Unterrichtsstunde?
Da wünscht man sich wirklich, solche Leute würden – schnellstmöglich und nicht erst 2012 – tatsächlich in ihre „höheren Ebenen“ verschwinden und diejenigen Menschen, die auf die Benutzung ihres Verstandes noch nicht vollständig verzichten wollen, in Ruhe lassen und etwaigen Unentschlossenen solchen Unfug nicht noch einzureden.
Foto: calamity_john – Fotolia.com
Wortvogel1 07.03.2009 um 19:37 1 Kommentar
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Besonders perfide (aber nicht neu) ist die Masche, eine etwaige Nicht-Heilung gleich mal dem Kranken in die Schuhe zu schieben („er muss geheilt werden WOLLEN“). So versichert man sich gegen den Vorwurf der Quacksalberei, und jede misslungene „Heilung“ ist nicht dem Heiler, sondern dem Kranken anzulasten.
Man kann nicht soviel essen, wie man kotzen möchte.
juliaL492 07.03.2009 um 21:24 912 Kommentare
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Oha, die ist selber krank, denn wer solch kranke (!) Ansichten hat, der gehört selbst behandelt. Alleine schon um die (von ihr beeinflussbaren) Menschen vor schlimmerem zu bewahren.
Welchen Charakterfehler hat den ein mit einem genetischen Defekt auf die Welt gekommenes Kind?!?
Achter3 07.03.2009 um 22:28 2 Kommentare
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Diese Selberschuld-Rhetorik findet sich auch ganz besonders bei Psycho-Angeboten und ist ein Grundpfeiler von Abhängigkeit in Sekten-> Niemals ist der Guru/Therapeut/“Medium“ schuld, wenn´s anders kommt als versprochen. Hmmmm…warum muss ich jetzt bloß an Psychoanalytiker denken?
cimddwc4 08.03.2009 um 11:57 6322 Kommentare
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Ergänzend noch die Infos über die „Heilerin“ von der Interview-Seite:
„Bewusstseinserweiterung“ ist ein toller Euphemismus für sowas…
Nur leider scheint ihr „Sehen“ keinen Spiegel zu kennen.
PS: Ein herzliches Willkommen den Neu-Kommentieren.
Elke5 08.03.2009 um 15:13 43 Kommentare
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Hallo cimddwc,
Du hast in deinem Artikel das liebe „Karma“ vergessen, oh Mann. Du weißt doch, dass sich damit alles erklären lässt, auch bei Kleinkindern, Tieren und Behinderten.
Apropos „Behinderte“:
„Camphill Schulgemeinschaft Brachenreuthe – oder: anthroposophische Kindesmisshandlung“
Alle Heiler benutzen die Argumentationsschiene der Heil-Tussi aus deinem Bericht.
Ein Erfolgsversprechen ist jedoch für reine Geistheiler ohne HP untersagt: „Wenn ein Geistheiler keine Heilung verspricht und keine Diagnosen stellt, benötigt er auch keine Zulassung als Heilpraktiker“
http://www.agpf.de/Bundesverfassungsgericht-1BvR784-03-Geistheiler.htm
Da könnte man ihr ganz schön an den Kragen gehen
cimddwc 08.03.2009 um 20:18 6322 Kommentare
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Ich werd mich hüten, etwas wie das Karma hinzuzufügen, das schon die „Heilerin“ unerwähnt lässt.