Es war einmal ein Sonnensystem, das fühlte sich ganz wohl an seinem Platz zwischen zwei Hauptarmen seiner Galaxie. Hier war es nicht so voll, dass ständig andere Sterne im Weg herumliefen, aber auch nicht so leer, dass gar nichts zu sehen wäre. Hier konnte es gemütlich seine Bahnen ziehen, Bahnen um das Zentrum der Galaxie, in dem dieses große unsichtbare Ding das Maß aller Dinge war. Ein großes unsichtbares Ding, das wahnsinnig schwer war, millionenmal schwerer als das Sonnensystem selbst, und das sich für diese Masse unglaublich schnell drehte.
Das Sonnensystem bewunderte dieses Ding. Es schleuderte nicht ständig riesige Mengen Materie von sich, um auf sich aufmerksam zu machen, denn das hatte es gar nicht nötig; nein, es zog sogar noch alle Materie in seiner Nähe an, die freudig strahlend in das Ding hineinstürzte. Den Rand, an dem dies geschah, nannte man Ereignishorizont. Dieser Gedanke gefiel dem Sonnensystem – es stellte sich diesen Horizont als von großartigen Events erfüllt vor, sodass es niemals langweilig werden würde.
Aber andererseits war das Sonnensystem auch froh über sein Dasein, denn es war eher das galaktische Äquivalent eines Stubenhockers: Es blieb lieber gemütlich zu Hause zwischen den beiden Hauptarmen und zog gemächlich seine Bahnen. Außerdem hatte es auch eine gewisse Verantwortung, denn sein dritter Planet befand sich in einem Abstand von der Sonne, in dem er Leben hervorbringen konnte und auch hervorgebracht hat. Und dessen Fortbestehen lag dem Sonnensystem sehr am Herzen.
Und was für ein Leben das war! Es war sogar intelligentes Leben; Leben, das sich seiner selbst bewusst war! Soweit das Sonnensystem von seinen Nachbarn erfahren hatte, war dies ein sehr seltener Fall in der Galaxie. Ein Grund für das Sonnensystem, sich für etwas Besonderes zu halten – und das mit Recht.
Wie das Sonnensystem mitbekam, machten sich einige der intelligenten Lebensformen – sie nannten sich übrigens Menschen – auch Gedanken über ihre Position in der Galaxie, ja im gesamten All. Es bekam allerdings nicht alles mit, woran die Menschen so dachten, es waren ja auch ziemlich viele: mehrere Milliarden! Zwar nicht ganz so viele wie Sterne in der Galaxie, aber doch fast.
Das Sonnensystem war stolz.
Doch dann schnappte es einen Gedanken auf, der ihn noch beunruhigen sollte: Manche Menschen – dem ersten Vernehmen nach Wissenschaftler, renommierte Forscher – sprachen von einem „Synchronisations-Strahl.“ Ein Synchronisationsstrahl? wunderte sich das Sonnensystem. Was soll denn womit synchronisiert werden? Es bekam nun nicht alle Details mit, aber ein Gedanke war dann doch klar: Der Synchronisationsstrahl sollte aus dem Zentrum der Galaxie kommen. Dem Zentrum, in dem das große unsichtbare Ding sitzt!
Zwar freute sich das Sonnensystem zunächst über diese Verbindung. Doch was genau sollte da synchronisiert werden? Das Sonnensystem konnte sich nur eine Eigenschaft vorstellen, bei der dieser Begriff Sinn ergeben würde: Sein Umlauf um das große unsichtbare Ding würde mit dessen Rotation verbunden werden, praktisch wie wenn man sie mit einer starren Achse verbände. Aber… aber das würde ja bedeuten, sorgte sich das Sonnensystem, dass es vorbei ist mit meinem gemütlichen Weg zwischen den beiden Hauptarmen!
Das Sonnensystem war traurig. Es würde enorm beschleunigt werden, und das in weniger als 50 Umdrehungen seiner Sonne – ein Klacks im Vergleich zu seinem bisherigen Leben. Und es war nicht nur traurig, weil sein gemütliches Dasein ein jähes Ende fände, sondern auch, weil diese riesige Geschwindigkeit für „sein“ menschliches Leben, auf das es so stolz war, nichts Gutes verheißen konnte. Eine Bewegung mit milliardenfacher Lichtgeschwindigkeit würde auch die relative Leere des Weltraums zu einem heftigen, orkanartigen Gegenwind werden lassen – selbst die Sonne würde dadurch wohl sehr schnell aufgelöst werden.
Das Sonnensystem war am Verzweifeln.
Was sollte es tun? Es wollte das alles nicht! Und warum gerade jetzt? Warum in diesem Jahr, das die Menschen 2012 nennen? Warum nicht wenigstens eine langsame Beschleunigung in Lauf von ein paar Milliarden Jahren, so zum daran Gewöhnen?
Das Sonnensystem musste mehr erfahren. Es konzentrierte sich ganz stark auf den Ursprung der Informationen über diesen Synchronisationsstrahl, auf den Wissenschaftler, der ihn entdeckt hatte. Doch was war das? Der Wissenschaftler sprach gar nicht von der Umlaufgeschwindigkeit, sondern von… Bewusstsein und Multidimensionalität… Paradigmenwechsel… Biometrisierung von Strukturen… verschiedenen anderen Dingen jedenfalls, die nicht so genau zu verstehen waren, denn das Ganze war doch sehr verworren.
Und selbst mit seinem begrenzten Wissen erkannte das Sonnensystem: Das war ja alles Unsinn! Der Wissenschaftler hatte keine Ahnung, wovon er da sprach! Noch nicht mal die Lage des Sonnensystems in der Galaxie und die grundlegendsten Vorgänge in ihr hat er richtig erkannt! Aber wieso dann das ganze Gerede vom Synchronisationsstrahl? Panikmache, Aufmerksamkeitsheischerei, Geldmacherei, oder was sonst?
Aber das Sonnensystem interessierte das gar nicht mehr. Und es fand auch andere Wissenschaftler, echte Wissenschaftler, die die Unsinnigkeit des Synchronisationsstrahls und der anderen Hirngespinste des anderen auch erkannt hatten.
Das Sonnensystem war wieder beruhigt.
Doch es wunderte sich, warum sich die Menschen solche Dinge ausdenken und daran glauben, und fragte sich, ob es die Intelligenz „seines“ Lebens richtig eingeschätzt hatte.
Bilder: NASA (Wikimedia, Chandra X-Ray Observatory)